Wir sehen eine Art Laden. In der Mitte befindet sich eine Theke. An der Wand dahinter ein großes Schild mit einer Aufschrift, die teilweise mit einer Sonnenblume überklebt ist. Der noch lesbare Teil lautet wache Mitte. An den anderen Wänden hängen Plakate und Flugblätter, die zu Aktionen aufrufen, wie z.B. Gegendemonstrationen oder Blockaden. Einige Plakate bieten psychologische Hilfen für sozial Benachteiligte und gesellschaftlich Zurückgebliebene an. In den Ecken stehen Ständer mit Prospekten. Der ganze Raum wirkt ein wenig schmuddelig und ohne erkennbaren speziellen Zweck. Ein Mann, der aussieht wie ein Geschäftsmann oder Büromensch, wahrscheinlich ein Besucher bzw. Kunde des Ladens, steht vor der Theke und unterhält sich mit einem anderen Mann in kurzen Radlerhosen und mit einer rückwärts aufgesetzten Base-Cap, der hinter der Theke steht und vermutlich zu denen gehört, die schon länger dem dort zu bearbeitenden Tätigkeits- und Aufklärungskomplex zuzuordnen sind, während der andere, wie dann auch seine unbedarfte Frage sofort erkennen lässt, gerade erst seinen Aufenthalt hereingekommen ist.
Kunde: Ich möchte eine Anzeige erstatten. Geht das hier bei Ihnen?
Radlerhose: Möglicherweise. Was glauben Sie denn, wo Sie her sind?
Kunde: Auf einer Polizeiwache?
Radlerhose: Sie sind wohl schon länger in Deutschland. Vielleicht schon zu lange. Halten an den alten Gewohnheiten fest. An dem alten Denken. Also, die Polizei ist abgeschafft, wie auch der Grenzschutz. Wir brauchen keine Kriminalität. Wir wollen keine Kriminalität. Wir wollen ein weltoffenes Land.
Kunde (sieht ihn ein wenig mitleidig an): Schön. Und wer ist jetzt hier für Strafanzeigen zuständig?
Radlerhose: Was oder wen wollen Sie denn anzeigen?
Kunde: Eine Straftat. Deswegen möchte ich auch eine Strafanzeige erstatten. Raub ist eine Straftat. Ich bin ausgeraubt worden.
Radlerhose: Das behaupten Sie. Uns hier ist davon nichts bekannt. Also, das können Sie ganz schnell wieder vergessen. Und selbst wenn: Wir könnten Ihnen höchstens eine Beratung für Traumatisierte anbieten. Jedenfalls normalerweise. Leider sind derzeit die Plätze auf Monate ausgebucht; die Qualität unserer Betreuung hat sich inzwischen weltweit herumgesprochen. (Ein Anflug von Stolz schimmert über sein Gesicht. Er nickt einige Male) Wenn Ihnen jedoch ein Psychologe bescheinigt, dass der unfreiwillige Eigentumstransfer, den Sie beklagen (wobei wir ohne Zeugen ja gar nicht wissen können, ob er wirklich unfreiwillig war), wenn er Sie seelisch belastet, dann könnten wir vielleicht einen Platz freimachen. Vielleicht lässt sich bei Ihnen ja noch verhindern, dass die Traumatisierung zu einer Radikalisierung führt und Sie sich gegen den von uns angestoßenen gesellschaftlichen Fortschritte wenden. Oder sich womöglich einbilden, Reichsbürger zu sein.
Kunde: Ich suche keine Beratung. Ich möchte eine Strafanzeige stellen, damit Sie den Täter ermitteln, der mich ausgeraubt hat, und nicht eine Liste möglicherweise in Frage kommender Sozialklempner.
Radlerhose: Ich sagte doch, vergessen Sie das. Ihre alte Polizei gibt es nicht mehr. Raub, diesen Straftatbestand gibt es nicht mehr. Und das ist gut so. Wir haben endlich aufgehört, die Menschen zu kriminalisieren für Dinge, die wir sowieso nicht verhindern können. Sollte allerdings dabei auch Hetze gegen Ihre Minderheit, Hate-Speech oder Propaganda gegen die herrschende Ordnung im Spiel gewesen sein, dann sähe die Sache anders aus.
Kunde: Welche Minderheit? (Er schaut sich um)
Radlerhose: Jeder gehört doch einer Minderheit an. Jedenfalls in einem weltoffenen Land wie Deutschland. Sie z.B. gehen vermutlich regelmäßig arbeiten, wie man an Ihrer leicht abgetragenen Kleidung gut sehen kann. Sie sprechen fehler- und akzentfrei Deutsch. Am deutlichsten aber wird Ihr Minoritätenstatus daran, dass Sie hierhergekommen sind in dem Glauben, in einer Polizeiwache (kichert) Polizisten (kichert erneut) zu finden und eine Strafanzeige (strafft sich und verbeißt sich ein weiteres Kichern) erstatten zu können. Sie sind so minderheitenmäßig, dass Sie eigentlich schon fast eine Bereicherung (er lacht schallend), ja geradezu ein Unikat darstellen (stoppt und scheint nachzudenken). Möglicherweise könnten wir Ihnen unter diesen Umständen, wenn man es recht bedenkt, doch Hilfe anbieten, so dass Sie Ihre Traumatisierung überwinden können, vielleicht sogar finanzielle Unterstützung, damit Sie einen unserer Offenes-Deutschland-Kurse besuchen können. Sie haben doch sicher längst bemerkt, dass Sie mit dem gesellschaftlichen Konsens nicht mehr synchron sind. Es wird Zeit für Sie, sich an die Veränderungen in unserer Gesellschaft anzupassen und sich von Ihrer seltsam antiquierten Sicht der Welt frei zu machen. Sie dürfen sich dem gesellschaftlichen Fortschritt nicht verweigern.
Kunde: Ich verweigere mich nicht, und ich werde mich hier auch nicht freimachen, aber ich verbitte mir die Bezeichnung „Bereicherung“. Ich bin ein Bürger dieses Landes und möchte als solcher behandelt werden. Ich möchte eine Straftat anzeigen. Und, auch wenn Sie es vermutlich so gut wissen wie ich, ich sage es Ihnen dennoch, damit Sie nicht irgendwann sagen, Sie hätten von nichts gewußt: Das Strafgesetzbuch und all die anderen Gesetz existieren immer noch. Ich fordere Sie auf, danach zu handeln. Ich wurde ausgeraubt. Sie sollen mir helfen und den Täter finden und vor Gericht bringen. Mehr will ich doch gar nicht. Ich verlange doch keine Lichterkette.
Radlerhose: Und ich bin der für diesen Bezirk zuständige Kümmerer und habe den unwiderstehlichen Eindruck, dass Sie die Wirklichkeit nicht sehen wollen. Die Gesetze, die Sie da voller Pathos für sich reklamieren, sind nur für den einzigen und sehr seltenen Fall da, dass es keine moralische Instanz gibt, die unserer Gesellschaft den Weg weist. Die aber gibt es in Deutschland – zum Glück. Also. Ich erkläre es noch einmal. Es gibt keine Straftaten und daher auch keine Anzeigen gegen Straftaten. Keine Polizei. Nicht in Deutschland. Wir kümmern uns um die Menschen, statt sie einzusperren. Sie allerdings, was Sie hier betreiben, offen und dreist in seiner Negierung unseres gesellschaftlichen Konsenses, kommt schon stark in die Nähe von böswilliger Hetze gegen die gesellschaftliche Ordnung und deren Fortschritt – den Sie anscheinend nicht akzeptieren wollen.
Kunde (verzweifelt den Kopf schüttelnd): Aber ich bin doch hier das Opfer, der Geschädigte und nach Recht und Gesetz…
Radlerhose: Sie tun es schon wieder. Aus den Minderheiten, denen Sie angehören, lässt sich kein akzeptierter Opferstatus konstituieren. Damit haben Sie hier nichts anzuzeigen. Sie haben hier auch nicht zu lamentieren oder Ihre Propaganda zu verbreiten. Sie können hier zwar alles vorbringen, was Sie wollen, dafür sind wir ja da in diesem freien Land, aber unterlassen Sie die Hetze gegen den gesellschaftlichen Fortschritt.
Kunde: Ich wurde ausgeraubt. Geschlagen. Getreten und aus dem Zug gestoßen. Und ich möchte, dass…
Radlerhose: Sie verlangen, dass wir anderen Menschen hinterherschnüffeln, ihre Lebensumstände ausfindig machen, um sie damit vermutlich jeder Möglichkeit zu berauben, ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie selbst zu bestreiten? Um diese Menschen stattdessen dem Staat aufzubürden, ihnen ihre Würde zunehmen? Zu Lasten all derer, die noch nicht hier sind und die irgendwo auf der Welt auf eine gerechte Chance warten, nach Deutschland zu kommen, womöglich unter großer Lebensgefahr? Deren Zukunft ist ihnen egal. Deren Leben würden Sie einfach zerstören. Und nur, weil Sie ein wenig Stress und Ärger hatten? Schämen Sie sich nicht? Sie haben einen Job, Sie Abschaum. Machen Sie ein paar Überstunden, wenn Sie so geldgeil sind, dann ist die Welt wieder in Ordnung. (Zornesröte hat sich über sein Gesicht bis an die Ränder der Base-Cap ausgebreitet. Er sieht sein Gegenüber an, als habe ihn ein unerträglicher Ekel überkommen.)
Kunde (mit mehr als nur ein wenig indigniertem Gesichtsausdruck, aber dennoch ruhig und höflich): Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Ich werde meine Angelegenheit wohl am besten selbst in die Hand nehmen.
Radlerhose (schreit den Mann wütend an): Drohst du mir jetzt mit Selbstjustiz? Hau bloß ab und verpiss dich, du Scheiß-Nazi! (Greift unter die Theke und holt einen Baseball-Schläger hervor. Macht Anstalten hinter der Theke hervorzukommen.)
In diesem Augenblick geht die Tür geht auf und eine junge Frau betritt den Laden. Der „Kunde“ nutzt die Gelegenheit, um sich in Sicherheit zu bringen und schlüpft durch die offene Tür.
Frau (hat gerade noch den Ruf „Scheiß-Nazi“ mitbekommen): Dem haben Sie es aber gegeben. Diese widerlichen Typen scheuen vor nichts zurück, wenn man ihnen keine Grenzen setzt. Unfassbar dieses Pack.
Radlerhose (nickt nachdrücklich und bestätigend): Das mußte sein. Denen dürfen wir hier keine Chance geben. Sobald sie sich mit ihrer Gesinnung outen, ist Schluss mit freundlich……also, was kann ich für Sie tun?