Schlank und schmal die umliegenden Gebäude überragend streckte die schwarze Skulptur in ihrer Haltung einer Turnerin ähnelnd, ohne den kleinsten Schatten zu werfen hoch und beinahe vornehm Arme und geöffnete Hände gegen die Sonne, als sei sie selbst ein Teil des Himmels. Die Mittagssonne gab Plätzen, Mauern und Gebäuden, die ansonsten grau und vernachlässigt wirkten, ein strahlendes Weiß und flutete den großen Platz an diesem Tage für einen kurzen Augenblick der Wahrheit mit einem Licht, das in alle Ecken drang und in dem alles sichtbar wurde, was sich zuvor im Schatten und im Schmutz verbergen konnte.

Am Rande des Platzes öffnete sich ein Tor. Die Männer traten hinaus in die Sonne. Hier im Licht unter dem weiten Himmel und den Augen der großen Skulptur sahen sie klein aus und blass, fahl und verletzlich, wie sie ihre gefesselten Hände schützend vor die Augen hoben.

Die Mauern und Wände der Gebäude, die den Platz umgaben, trugen Zeichnungen und Malereien von Menschen in größeren oder kleineren Gruppen, viele mit lächelnden Kindern, fröhlich und glücklich. Manche Bilder trugen  Beschriftungen in Kinderhand.  Dazwischen fanden sich immer wieder auch einzelne für sich stehende Wortgraffiti in übergroßen Buchstaben, und man erkannte leicht, dass sie alle wieder und wieder übermalt worden waren, mit einer gewissen Ordnung und künstlerischen Versiertheit zwar, dass sie aber jedenfalls zum Zweck des Übertünchens älterer, vorangegangener und möglicherweise auch diesen vorangegangener Bilder und Sprüche aufgebracht worden waren, denn deren Spuren offenbarten sich nun unter der gnadenlosen Mittagssonne.

Währenddessen waren zwei Frauen in dunklen, schmucklosen Kostümen lächelnd damit  beschäftigt, die soeben herausgetretenen Männer in eine Reihe zu dirigieren. Als sie schließlich mit der Aufstellung zufrieden waren, trat eine der beiden vor die Reihe und strich, während sie langsam von einem zum anderen ging, jeweils einige Worte mit dem Betreffenden wechselnd, in einer Liste einen Namen nach dem anderen aus. Am Ende der Reihe blieb sie vor einem mittelgroßen, gut gekleideten Mann stehen, der immer wieder, nervös und unsicher, wie suchend um sich blickte, den Kopf in ständiger Bewegung.

„Es wird niemand kommen. Es kann niemand kommen.“ Sie nickte ihm zu. „Ihren Namen bitte.“

Der Mann sah sie an und antwortete nicht. Sie kannte ihn doch. Niemand kannte ihn besser als sie.

Was tat er hier? Es bräuchte nur ein Wort. Er versuchte zu sprechen, seine Lippen öffneten sich.

„Ja?“ sagte die Frau.

[…]

Sein Fokus löste sich von dem Wandbild auf der Mauer. Sein Blick wanderte über die Schrift an der Wand.

Der Tod gehört zum Leben. Gemeinschaft gibt ihm Sinn verkündete die Kinderhand unter dem bunten Bild einer Totenfeier.

„Nein“, sagte er.

Die Frau strich mit einem freundlichen Nicken den letzten Namen von ihrer Liste.

Es war ein grandioser Mittag und die Sonne ließ alles schimmern und glitzern und funkeln, und die Gewehrläufe und die Metallknöpfe an den Uniformen blinkten ebenso wie die frisch gewichsten Stiefel der Freiwilligen, die auf dem großen Platz Aufstellung nahmen.

Gemeinschaft macht frei schrieb die Kinderhand an der Wand.

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